Meine Freundin die Kontrolle
Meine Freundin die Kontrolle

Meine Freundin die Kontrolle

Manchmal ist es, als ob ich auf jeden einzelnen Menschen auf dieser Welt sauer bin. Es ist, als hätte ich irgendwann in meinem Leben aufgeschnappt, dass ich für jeden und alles verantwortlich bin, dass ich alles unter Kontrolle haben muss. Und jetzt ist so eine tiefe Wut in mir, weil sich niemand selbst unter Kontrolle hat.

Ich glaube, ich bin aus dem Grund wütend, weil, wenn sie sich unter Kontrolle hätten, ich es nicht tun müsste — und ich warte, dass sie es endlich übernehmen, damit ich es ablegen kann. Es ist, als würde ich nur frei sein, wenn sie sich unter Kontrolle haben. Ich weiß, dass es in meiner Hand liegt, dass ich die Kontrolle loslassen darf. Aber ich weiß noch nicht wie.

Sie sitzt in jeder einzelnen Zelle meines Körpers; sie wacht, sie schützt, sie stabilisiert. Als wäre die Kontrolle alles, was mich zusammenhält, und sonst falle ich einfach auseinander. Dann verliere ich die Kontrolle über alles — mein Leben, mich. Und das ist wohl meine größte Angst: Was ist, wenn ich die Kontrolle verliere?

Früher waren es schnelle Fahrgeschäfte auf dem Rummel oder wenn ich Beifahrer war. Heute ist es jeder Schritt, den ich aus der Tür mache, und die Angst ist da — die Angst, ich könnte die Kontrolle verlieren. Die Kontrolle ist der einzige Freund, den ich noch habe. Mein bester Freund. Kontrolle sind Routinen, Regeln, System, „Normal“, klarer Verstand. Wenn eines davon mal kurz von mir vernachlässigt wird, wackelt mein ganzes System. Mein Nervensystem schreit Alarm, holt mich in meinen Körper zurück, nach Hause, in mein Schneckenhaus, bis ich wieder drin bin im Safe Space der Kontrolle.

Nur leider ist diese Kontrolle kein Leben mehr, sondern ein Überleben. Denn Leben ist nicht zu kontrollieren! Kontrolle ist die Freundin, die irgendwann mal da war, wo nichts anderes mehr da war, und deshalb verdanke ich ihr mein Leben und schenke ihr meins. Ich bin loyal ihr gegenüber. Sie ist meine Familie, mein Zuhause. Noch …

Doch da klopft etwas in mir an. Lässt mich nicht schlafen oder ruhen. Schüttelt mich. Erinnert mich. Kribbelt in meinen Zellen. Da lässt mich etwas wüten, schreien, weinen. Es lässt mich wissen: Da gibt es mehr. Mehr als diese eine Freundin. Es quetscht jeden einzelnen Tropfen Gift aus meinen Zellen. Es flüstert: „Morgen muss ich nicht wieder aufwachen und kontrollieren. Es gibt noch einen anderen Weg, ich darf an ihn glauben und dann werde ich ihn sehen.“ Doch jetzt ist alles noch vernebelt, aufgewühlt.

Ich sehe ganz verschwommen ein Kind, das bockt, das nicht will. Aber ich sehe, wie es verstummt, wie es gelernt hat, dass es besser ist, wenn es funktioniert, und dass Bocken besser unter Kontrolle gehalten werden sollte. Dass Gefühle kontrolliert werden, nicht auffallen, sich nicht selbst gespürt werden — denn dann verliert es etwas … Zugehörigkeit? Liebe? Leben? Es muss etwas Lebensnotwendiges sein, denn es gibt dafür alles auf! Alles von sich! Es verliert sich selbst als Freundin und gewinnt die Kontrolle als neue Weggefährtin.

Darf ich dich in meine Welt entführen?

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